• © Hanna Karstens - Percussion Day 21.09.2019

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Macht mich Orchesterspiel netter und klüger?

© Foto: J. Konrad Schmidt - Dr. Martin Wulfhorst

Warum ist Musizieren so wichtig für Kinder und Jugendliche? Natürlich weckt guter Musikunterricht die Begeisterung für die Musik und legt vielleicht eine lebenslange Glücksquelle frei. Aber durch die Forschungen der letzten Jahrzehnte ist außerdem ein wichtiger indirekter Nutzen der musikalischen Bildung ins Visier der Öffentlichkeit geraten: Die komplexen Prozesse, die das Musizieren im Gehirn auslöst, schaffen – vereinfacht gesagt – Strukturen, die vielen anderen, nicht-musikalischen Tätigkeiten und Gehirnfunktionen zugutekommen. Genau dies bezeichnet die Wissenschaft als Transfer-Effekte.

Seit Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden (Platon), beobachten Musiker enge Zusammenhänge zwischen musikalischen und nicht-musikalischen Fähigkeiten. Aktuelle psychologische und neuroanatomische Studien bestätigen, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die intensiv und sinnvoll Musik betreiben, anderen in vielen Bereichen voraus sind. Dazu zählen physische Koordination, Spracherwerb, mathematisches Denken, räumliche Orientierung, soziale und emotionale Kompetenz, Selbstregulierung, Gedächtnis und Konzentration. Die Fähigkeit eines Kindes, einen regelmäßigen Puls zu klopfen, erlaubt zum Beispiel auffallend genaue Schlüsse über die Höhe seines IQ.

Aber zeigt dies alles wirklich mehr als einen lockeren Zusammenhang zwischen musikalischen und anderen „Begabungen“? Ist die hohe statistische Wahrscheinlichkeit, dass ein musizierendes Kind auch besser in Mathematik ist als ein nicht-musizierendes (sonst gleichgeartetes) Kind, mehr als eine reine Korrelation?

Forschungsarbeiten aus den letzten Jahren belegen klar Ursache und Wirkung. Wissenschaftler konnten zum Beispiel messen, dass durch Musikunterricht physische Veränderungen in den Gehirnstrukturen hervorgerufen wurden, die den Spracherwerb unterstützten – ein Zusammenhang, der einleuchtet, denn Musik und Sprache werden in derselben Gehirnregion verarbeitet. Eine große Langzeitstudie (Hille & Schupp 2014) zeigte, dass besonders Kinder aus bildungsferneren Elternhäusern in ihrem Arbeitsverhalten und in ihren Schulnoten von längerem Instrumentalunterricht profitierten.

Die Alltagserfahrung legt nahe, dass Musizieren in der Gemeinschaft besonders die sozialen Fähigkeiten schult. Doch leider haben sich nur wenige Forscher dieses Themas angenommen. Zwei Psychologen (Kirschner & Tomasello 2010) ließen Vierjährige an einem Spiel mit Plastikfröschen teilnehmen und testeten danach ihre Bereitschaft, einem anderen Kind nach einem provozierten „Unfall“ zu helfen (eine Dose öffnete sich unerwartet, und Murmeln fielen auf den Boden). Diejenige Gruppe, die während des Frosch-Spiels eine Liedmelodie mit regelmäßigen Wiederholungen und einem regelmäßigen Puls etliche Male zusammen nachgesungen hatte, zeigte beim „Unfall“ eine höhere Hilfsbereitschaft als eine zweite Gruppe, die den Text des Lieds ohne Melodie und Puls zusammen nachgesprochen hatte. Bezeichnenderweise war es also die musikalische Gemeinschaftsaktivität, die die Hilfsbereitschaft besonders stark förderte. Die Wurzel für den offensichtlichen Transfereffekt liegt vielleicht in einer konkreten Funktion von Musik in der Evolutionsgeschichte: In vorgeschichtlichen Ritualen diente ein regelmäßiger Puls, eine definierte Melodie und eine Struktur mit Wiederholungen womöglich dazu, den Gruppenzusammenhalt zu stärken.

Besonders stark wird die Hilfsbereitschaft durch gemeinschaftliche rhythmische Bewegung gefördert, wie sie in Streichorchestern ständig geübt wird. Kleinkinder im Alter von14 Monaten, die in einer Studie von ihren Müttern in synchroner Bewegung mit einer gegenübersitzenden Person geschaukelt wurden, waren danach eher bereit, ihr zu helfen, als sie einen Gegenstand fallen ließ, als diejenigen, die nicht synchron geschaukelt wurden (Gembris 2015). Synchrone rhythmische Bewegungen zu Musik fördern also vermutlich die frühe Entwicklung altruistischen Verhaltens.

Wir warten noch auf weitere Studien, die solche Wirkungen des gemeinschaftlichen Musizierens genauer erforschen. Bis dahin werden Orchestererzieher weiter das tun, was sie schon immer getan haben — diejenigen außer-musikalischen Fähigkeiten zu fördern, die für gutes Zusammenspiel unerlässlich sind und die deshalb auch im Orchester besonders gut geübt werden können (“Orchester-Tugenden”):

  • Rücksichtnahme, Empathie und andere soziale Fähigkeiten („Wenn der Junge neben mir nicht so gut mitkommt, helfe ich ihm, statt mich über ihn lustig zu machen!“)

  • Selbstregulierung, Disziplin und Teamfähigkeit („Wenn der Dirigent abbricht, höre ich auf zu spielen.”)

  • Gewissenhaftigkeit in der Arbeit („Wenn ich nicht leise spiele, wo piano steht, stört das alle!”)

  • Schnelligkeit in der Auffassung und Umsetzung („Wenn ich zu lange brauche, um die richtige Stelle in den Noten zu finden, dann hält das die Probe für alle auf!”).

Keith Cook, ehemaliges Mitglied des Louisville Symphony Orchestra, unterrichtet seit Jahrzehnten Streicher in einem sozialen Brennpunkt seiner Stadt. Unter den männlichen Teenagern in einer besonders verrufenen Gegend waren nach einiger Zeit die Mitglieder seiner Streichergruppe als einzige nicht im Drogenmilieu, im Gefängnis oder auf dem Friedhof gelandet. Dieses – zugegeben – extreme Beispiel zeigt das außer-musikalische Wirkungspotenzial des Musizierens und besonders des gemeinsamen Musizierens. Ähnliches liest man auch immer wieder über das venezuelanische El sistema oder über großartige Orchesterprojekte in Entwicklungsländern (Wisch-mann & Baer 2011).

Wenn auch die Orchesterleiterinnen und -leiter an unseren Musikschulen sicher nicht ständig solch dramatische Erfolgsgeschichten vorweisen können, so leisten sie doch durch ihre gezielte Arbeit sehr viel, um den ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu helfen. Und deren Eltern können durch die Unterstützung der Orchesterarbeit viel dazu beitragen, diese Transfer-Effekte zu fördern. Nutzen wir also gemeinsam diese Chance!

Martin Wulfhorst © 2020 (www.orch.info)                           

 

 

SEHENSWERT

Wischmann, Claus & Martin Baer, Regie (2011).
Kinshasa Symphony. Dokumentarfilm, DVD. Berlin: sounding images.

 

LESENSWERT

Adrians, Frauke (2020). „`Musiker sind Träger der Kultur.’ Zehn Jahre Liederprojekt: Eckart Altenmüller über die Bedeutung des gemeinsamen Singens für Kinder.” Das Orchester 68(1), 39–41. https://www.liederprojekt.org/

Gembris, Heiner (2015). Transfer-Effekte und Wirkungen musikalischer Aktivitäten auf ausgewählte Bereiche der Persönlichkeitsentwicklung. Ein Überblick über den aktuellen Stand der Forschung. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung. https://www.bertelsmann-
stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/47_MIKA/Gembris_Expertise_final.pdf

Hille, Adrian & Jürgen Schupp (2015). “How Learning a Musical Instrument Affects the Development of Skills.” Economics of Education Review 44, 56–82. https://www.econstor.eu/bitstream/10419/
105863/1/Hille_2015_How-Learning-Musical.pdf

Kirschner, Sebastian & Michael Tomasello (2010). “Joint Music Making Promotes Prosocial Behavior in 4-Year-Old Children.” Evolution and Human Behavior 31(5), 354–364. https://www.eva.mpg.de/documents/Elsevier/Kirschner_Joint_EvolHumBeh_2010_1552719.pdf